Nachruf auf Prof. Dr. Frieder Lenz
Frieder Lenz wurde am 12.11.1942 geboren. Ab 1962 studierte er Physik an der Universität Freiburg. 1971 beendete er sein Studium mit der Promotion bei dem renommierten Kernphysiker Hans Marschall. Schon mit seiner Dissertation konnte er ein erstes Ausrufezeichen setzen. Er entwickelte die Grundlagen für eine modellunabhängige Analyse der elastischen Elektron-Kernstreuung, die einen nachhaltigen Einfluss auf dieses Gebiet haben sollten. Zwischen 1972 und 1976 war Frieder Lenz als Postdoc am MIT (Boston) und am SIN (Villigen). Hier gelang es ihm, sich nicht nur einen Namen zu machen, sondern gleichzeitig auch den Grundstein zu legen für einen Kreis von hochkarätigen Wissenschaftlern, mit denen er und seine Gruppe über Jahrzehnte noch in engem Kontakt und wechselseitigem Austausch stehen sollten. Erwähnt seien insbesondere Ernie Moniz und John Negele vom MIT, Justus Koch von der Boston University, Koichi Yazaki von der Universität Tokyo und Michi Hirata aus Hiroshima. Eine enge Freundschaft verband diese drei verschiedenen und herausragenden Wissenschaftler, zusammengehalten von der zentralen Persönlichkeit des Frieder Lenz.
1976 habilitierte sich Frieder Lenz in Freiburg. Die folgenden zehn Jahre verbrachte er als Leiter der Theoriegruppe am SIN sowie als Privatdozent an der ETH Zürich. Hier hatte ich als Postdoc erstmals die Gelegenheit und das Privileg, in seiner Gruppe arbeiten zu können. Das SIN (Schweizerisches Institut für Nuklearforschung, heute Paul-Scherrer Institut, PSI) nahe Zürich war eine von drei „Mesonenfabriken“ weltweit, mit den Konkurrenten LAMPF (Los Alamos) und Triumf (Vancouver). Es handelte sich um Protonen-Beschleuniger zur Erzeugung intensiver Pi-Mesonenstrahlen von einigen 100 MeV. Die Kernphysik stand gerade an der Schwelle zur modernen Ära der starken Wechselwirkung. Man beobachtete, dass man Kerne nicht nur durch klassische, nukleonische Teilchen-Loch Anregungen untersuchen konnte, sondern auch durch Anregungen der subnukleonischen Freiheitsgrade einzelner Nukleonen. Im Energiebereich des SIN manifestierte sich das hauptsächlich durch die Delta-Resonanz (Spin 3/2, Isospin 3/2, 1232 MeV), die in den Daten der Pion-Kernstreuung allgegenwärtig war. Frieder Lenz und seine Mitarbeiter entwickelten eine Theorie, um der Erzeugung der Delta-Resonanz und ihrer Propagation durch den Kern trotz extrem kurzer Lebensdauer gerecht zu werden. Das Augenmerk richtete sich von der Pion-Kernwechselwirkung auf die Delta-Kern Wechselwirkung und die Dynamik der Delta-Loch Zustände, die alternativ auch elektromagnetisch angeregt werden konnten. Frieder Lenz und seine Gruppe legten state-of-the-art Untersuchungen mit sehr aufwendigen Vielteilchenrechnungen vor, die bis heute Bestand haben. So wird z.B. das Delta-Kern Potential (einschließlich eines erstmals identifizierten Spin-Orbit Termes), das aus den Pi-Kernstreudaten gewonnen werden konnte, noch heute bei der Analyse von hochenergetischen Schwerionenreaktionen verwendet. Diese Nachhaltigkeit ist um so bemerkenswerter, als die Arbeitsbedingungen für theoretische Physiker vor einem halben Jahrhundert nicht vergleichbar waren mit denen von heute. Ich erinnere mich noch lebhaft an diese Zeit ohne PC’s und Internet, dafür mit einem zentralen Rechenzentrum. Die einzigen persönlichen Datenträger waren lange Karteikästen voller Lochkarten oder dicke Stapel großformatigen Endlospapiers aus dem Drucker des Rechenzentrums. Für jeden Probelauf eines Programmes musste man mit einem Tag rechnen. Preprints wurden per Post in die ganze Welt verschickt und mit entsprechender Verzögerung auf Regalen in der Bibliothek ausgelegt. Die Tatsache, dass numerische Rechnungen mit den existierenden Rechnern so umständlich waren, hatte aber auch etwas Gutes: Man war gezwungen, die Probleme viel tiefer analytisch zu behandeln, um erst ganz zum Schluss auf die Numerik zurückzugreifen. Dadurch wurden formale und mathematische Fähigkeiten geschult, wie sie insbesondere Frieder Lenz perfekt beherrschte.
Während seiner Zeit am SIN wurde Frieder Lenz zu einer der prägenden Figuren der Mittelenergie- Kernphysik. Parallel dazu hatte sich das Verständnis der starken Wechselwirkung aus einer anderen Richtung, der Hochenergiephysik, revolutionär fortentwickelt, hin zur Quantenchromodynamik. Quarks und Gluonen, asymptotische Freiheit und Confinement waren die fundamentalen Begriffe, die den Fokus auf Nukleonen und Mesonen zunehmend verdrängten. Gegen Ende seiner Zeit am SIN spiegelt sich diese Verschiebung bereits in den Arbeiten von Frieder Lenz und anderen wider. Sie entwarfen ein lösbares Vielteilchenmodell mit Confinement, aber ohne van der Waals Kräfte, und untersuchten dessen Eigenschaften. In dieser Zeit beobachtete man, wie sich das Interesse vieler Kernphysiker von der traditionellen Kernphysik hin zu fundamentalen Fragen stark wechselwirkender Quantenfelder verschob. 1986 nahm Frieder Lenz den Ruf nach Erlangen auf den Lehrstuhl Theorie 3 an. Hierhin konnte ich ihm schon 2 Jahre später auf eine Fiebiger Professur folgen, die an seinem Lehrstuhl angesiedelt war. Mein erster Eindruck war der, dass die Theoriegruppe vom SIN nach Erlangen verlegt worden war. Der vertraute Besucherstrom blieb erhalten, und zahlreiche neue kamen dazu. Zwei Änderungen spiegeln den Unterschied zwischen Forschungslabor und Universität wider: Der direkte Kontakt in der Forschung mit experimentellen Gruppen nahm ab, und das Augenmerk richtete sich zunehmend auch auf die Lehre. Das Arbeitsgebiet von Frieder Lenz entwickelte sich rasant in eine sehr theoretische Richtung, bedingt durch den Erfolg der Quantenchromodynamik als Theorie der starken Wechselwirkung. Frieder Lenz verlagerte den Schwerpunkt seiner Arbeit von der Mittelenergie-Kernphysik hin zu Eichfeldtheorien, Quarks und Gluonen. Er entwickelte ein großes Interesse an fundamentalen theoretischen Fragestellungen wie spontane Symmetriebrechung, Higgs-Mechanismus, Confinement, und Lichtkegelquantisierung. Die Motivation und das Hauptaugenmerk lagen jedoch immer auf den physikalischen Fragestellungen, nicht den formal-mathematischen.
Insbesondere initiierte Frieder Lenz wichtige Arbeiten zu Symmetrien von Eichfeldtheorien in der Quantenmechanik. Als warm-up wurden Abelsche Theorien (QED, Abelsche Higgsmodelle) aus einem neuen Blickwinkel untersucht, später die QCD in axialer Eichung weiterentwickelt. Neue Einsichten konnten insbesondere zu den Symmetrieaspekten gewonnen werden, durch sorgfältige Differenzierung zwischen physikalischen, globalen Symmetrien und lokalen Eichsymmetrien. Frieder Lenz und Mitarbeiter konnten z.B. zeigen, dass die relevante Symmetrie für die Quantenelektrodynamik eine von ihm „displacement Symmetrie“ genannte, globale Rest-Eichsymmetrie ist. Im Gegensatz zur üblichen Diskussion in Textbüchern ist diese Symmetrie in der Higgs-Phase ungebrochen und in der Coulomb Phase spontan gebrochen, mit dem Photon als Goldstone-Boson. Die weit verbreitete Erklärung der Masselosigkeit von Photonen aufgrund der lokalen Eichinvarianz und des Higgs-Mechanismus als Ausdruck der spontanen Brechung der Eichsymmetrie ist quantenmechanisch nicht haltbar, sondern beruht auf einer ungerechtfertigten Vertauschung der Reihenfolge von Eichfixierung und Quantisierung.
Der Lehrstuhl Theorie 3 zog über die Jahre exzellente Studenten als Diplomanden und Doktoranden an, von denen eine beträchtliche Anzahl später Karriere an Universitäten in den USA, Deutschland und anderen Ländern gemacht haben. Die Nachwuchsförderung profitierte insbesondere von einem Graduiertenkolleg, das Frieder Lenz gemeinsam mit dem experimentellen Lehrstuhl von Klaus Rith und zwei Theoretikerkollegen aus Regensburg, Wolfram Weise und Ernst Werner, ins Leben gerufen hatte. Die Förderung wurde mehrmals verlängert, sodass das Graduiertenkolleg über viele Jahre betrieben werden konnte, auch gemeinsam mit den Nachfolgern an den Partnerlehrstühlen. Höhepunkt des akademischen Jahres waren jeweils Workshops in Waischenfeld oder Kloster Banz. Dabei wurde eine kleine Anzahl von renommierten Sprechern eingeladen, die mehrstündige Vorlesungen über ihre Arbeitsgebiete ohne jeden Zeitdruck halten konnten. Jeweils zwei Doktoranden wurden einem Dozenten zugeordnet mit der Aufgabe, Skripte der Vorlesungen anzufertigen. Dies ergab nützliche Sammlungen von Material, die später als Lecture Notes in Physics veröffentlicht wurden. Gleichzeitig eröffnete dies gute und intensive Kontaktmöglichkeiten zwischen Studenten und Professoren. Abgesehen von den Workshops war der Austausch mit der Universität Regensburg sehr intensiv, gefördert auch durch Studientage. Diese fanden abwechselnd in Erlangen und Regensburg statt, unter Teilnahme aller Doktoranden und Diplomanden der involvierten Lehrstühle, gemeinsam mit den Dozenten. Während der Vorlesungszeit wurde so wöchentlich zwischen Erlangen und Regensburg gependelt. Die intensiven Kontakte führten dazu, dass einige Studenten auch vor der Promotion noch die Universität wechselten, sowie zu einem neuartigen, beschleunigten Studiengang nach Ende der Laufzeit des Graduiertenkollegs.
Die Lehraktivitäten wurden am Lehrstuhl Theorie 3 ergänzt durch strukturierte Fortbildungsprogramme während der vorlesungsfreien Zeit, in welche die zahlreichen Sommerbesucher eingebunden wurden. Hier wurde von Frieder Lenz typischerweise ein aktuelles Thema ausgesucht, und die Teilnehmer unterrichteten sich gegenseitig mit Hilfe von informellen Tafelvorträgen, typischerweise während einer Woche.
In den letzten Jahren seiner aktiven Zeit widmete sich Frieder Lenz der Quantenfeldtheorie in beschleunigten Bezugssystemen (Stichworte: Rindler space, Unruh-Effekt). Daneben gab er zunehmend gerne Vorlesungen über die allgemeine Relativitätstheorie, die von den Studenten extrem gut besucht wurden. Hier kündigte sich eine allgemeine Entwicklung in der Teilchentheorie hin zur Gravitation an, der auch mit der Berufung des Nachfolgers von Frieder Lenz, Thomas Thiemann, und der Umbenennung des Lehrstuhles in „Quantengravitation“, Rechnung getragen wurde. Wer keine Gelegenheit hatte, an einem Vortrag von Frieder Lenz teilzunehmen, dem sei seine (anscheinend einzige) aufgezeichnete Vorlesung aus dem Jahre 2005 am Kollegium Alexandrinum der FAU mit dem Titel „Einsteins Raum-Zeit“ (für ein breiteres Publikum) empfohlen (fau.tv/clip/id/508).
Von Frieder Lenz wird sein Charisma, seine Freundlichkeit, seine Kontaktfreudigkeit und vor allem seine ansteckende Begeisterung für die Physik in Erinnerung bleiben. Seine Vorlesungen hielt er stets mit Kreide an der Tafel, ohne jegliche Hilfsmittel wie Skripte, Folien oder Beamer. Die Studenten empfanden Frieder Lenz in Klausuren und Prüfungen als streng, aber gerecht, was ihn sehr freute. Versuche von Besuchern oder Mitarbeitern, die versuchten, ihn von Kompromissen bei der Lösung schwieriger Probleme zu überzeugen, wurden mit dem Satz „no cheap thrills“ gnadenlos abgewehrt. Mir persönlich wird Frieder Lenz darüber hinaus stets als ein wahrer Universalgelehrter im klassischen Sinn im Gedächtnis bleiben, mit dem jede Diskussion beim gemeinsamen Lunch im Institut eine große Freude und Bereicherung war und in viele Gebiete jenseits der Physik führen konnte.
Frieder Lenz starb am 4. April 2025 im Alter von 82 Jahren.
von Prof. Michael Thies